Gedenken in Kriegszeiten – Kiew stört Putins Siegesparade
Veröffentlicht: Mittwoch, 07.05.2025 07:00

Weltkriegsgedenken
Moskau/Kiew (dpa) - Mit Sieg und Frieden kann Kremlchef Wladimir Putin an dem in Russland heiligen Feiertag zum 80. Jubiläum der Kapitulation von Nazideutschland nicht dienen. Ein Meer aus blutroten Flaggen, riesige orange-schwarz gestreifte Georgsbänder und andere Weltkriegssymbole prägen das Stadtbild in Moskau. Putins große Militärparade an diesem Freitag auf dem Roten Platz soll vergessen machen, dass das Land, das am 9. Mai den Sieg im Zweiten Weltkrieg feiert, selbst Verursacher des größten Blutvergießens in Europa seither ist. Aber Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine mit den Hunderttausenden Toten und Verletzten überschattet das Gedenken.
Wenn Putin mehr als 10.000 Soldaten aufmarschieren und dazu Panzer und Raketen durch Moskau rollen lässt, ist das eine Machtdemonstration. Zur Waffenschau erwartet er Staats- und Regierungschefs aus etwa 20 Ländern, darunter als Hauptgast Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping. Um ungestört - ohne die gerade erst wieder in Moskau spürbaren ukrainischen Drohnenangriffe - zu feiern, hat Putin eine dreitägige Feuerpause angeordnet. In Kiew aber lehnt Präsident Wolodymyr Selenskyj dies als «Theaterinszenierung» ab.
Selenskyj vor einem Kreml in Flammen
Dessen Kanzleichef Andrij Jermak veröffentlichte bei Telegram ein Bild Selenskyjs, der auf einen in Flammen stehenden Kreml schaut. Moskau reagiert wie auf Knopfdruck gereizt. Bei einem Anschlag an dem wichtigsten nationalen Feiertag droht Russland der Ukraine mit einer beispiellosen Vergeltung.
Der im Exil lebende russische Politologe Alexander Baunow sieht in Selenskyjs Drohung, Moskau anzugreifen und die Siegesfeierlichkeiten zu stören, keine direkte Gefahr für die Parade, aber das Kalkül, Bürger und ausländische Gäste zu verunsichern. Die friedliebenden Kräfte in Russland werde dies nicht stärken, meint Baunow. Im Gegenteil. Auch diese Woche mussten Moskauer Flughäfen wieder wegen der Drohnenattacken zeitweise dichtmachen.
Putin kann Siegesversprechen nicht halten
Zugleich bleibe Putin den versprochenen Sieg im Krieg gegen die Ukraine auch nach mehr als drei Jahren weiter schuldig, schreibt Baunow bei Telegram. Der Kremlchef habe zwar gerade erst die «Befreiung» der russischen Region Kursk schon als Sieg verkauft. Doch laut Kiew kämpft die ukrainische Armee weiter auch auf russischem Gebiet gegen Moskaus Truppen.
Zum Feiern gibt es für Putin daher trotz stetiger Geländegewinne in der Ukraine keinen Grund. Zwar hält sich das Land trotz der westlichen Sanktionen wirtschaftlich vergleichsweise gut. Dabei hilft die Kriegswirtschaft mit der hochtourig laufenden Rüstungsindustrie, die Wachstum künstlich erzeugt. Aber die ökonomischen Probleme nehmen zu, weil es kaum Investitionen gibt und der Industrie der Zugang zu westlicher Technik und neuem Know-how fehlt.
Getrenntes Weltkriegsgedenken
Vor allem aber hat es das militärisch deutlich stärkere Land auch im vierten Kriegsjahr nicht geschafft, die wehrhafte Ukraine in die Knie zu zwingen. Diese wird im Westen auch zum Weltkriegsgedenken als Verteidigerin von Frieden und Freiheit gewürdigt, während sich russische Amtsträger ärgern, dass sie etwa in Deutschland bei den Ehrungen der Befreier vom Nationalsozialismus offiziell unerwünscht sind.
Der russische Hurra-Patriotismus zum Weltkriegsgedenken und eine zunehmende Militarisierung sollen das überdecken. Weil Putin seinen Krieg gegen die Ukraine mit einem Kampf gegen ein «Nazi-Regime» in Kiew begründet, beklagen Soziologen einen offenen Missbrauch des Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg für politische Zwecke. Immer häufiger spricht der Machtapparat in Moskau zudem von einer Vorbereitung auf einen noch größeren Konflikt mit dem Westen und allen voran mit der Nato.
Historiker: Keine Begeisterung bei Russen für Putins Krieg
Der Historiker Matthias Uhl, der jahrelang im inzwischen in Moskau verbotenen Deutschen Historischen Institut arbeitete, sieht einen Schaden für das Geschichtsbild. «Von der Befreiermission der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg ist nach dem Krieg gegen die Ukraine nichts mehr geblieben», sagt er im Gespräch. «Bei der Parade fehlen auch alle anderen Siegermächte.» Nun kämen Würdenträger aus Afrika und Südamerika, um «zumindest bildlich Ersatz zu schaffen», sagt Uhl.
«Es wird immer mehr zum Happening, zur reinen Heldengeschichte, die alles ausblendet, was nicht in dieses Bild passt», meint der Experte. Kritik am offiziell diktierten Geschichtsbild ist ebenso tabu wie Widerstand gegen Putins laufenden Krieg gegen die Ukraine. «Es gibt bei den meisten Russen keine ideologische Begeisterung für den Krieg gegen die Ukraine», sagt Uhl. «Anders als im Zweiten Weltkrieg läuft die Mobilisierung von Soldaten nur über finanzielle Anreize.»
Ukraine bittet um Waffen und setzt auf Drohnen
Die Ukraine hingegen, die selbst ihren Beitrag zum sowjetischen Sieg über Hitlerdeutschland leistete, kämpft weiter um ihr Überleben. Selenskyj fordert immer wieder die von den USA vorgeschlagene Waffenruhe für zunächst 30 Tage und bittet den Westen um Waffen, um sich weiter gegen Russlands Angriffe zu wehren.
Dabei ist auch ihm klar, dass eine militärische Rückeroberung der von Russland kontrollierten Gebiete, die knapp ein Fünftel des Staatsgebiets ausmachen, angesichts der Kräfteverhältnisse unrealistisch ist. Bisher aber verhindern die ukrainischen Verteidiger einen strategischen Durchbruch der Russen, der Kiew zu einer Kapitulation zwingen könnte.
Zugleich hat die ukrainische Armee massive Probleme, neue Soldaten zu finden. Es gibt viele Fahnenflüchtige. Auch ein finanziell attraktives Rekrutierungsprogramm für bisher verschonte 18- bis 24-Jährige brachte kaum Erfolg. Dabei wird der monatliche Bedarf von Oberbefehlshaber Olexander Syrskyj mit 30.000 Soldaten beziffert.
Große Hoffnungen setzt Kiew daher auf sein Drohnenprogramm, um die fehlenden Soldaten zu kompensieren. Ziel Selenskyjs ist es, Russland aufzuhalten und so zumindest ein Patt entlang der Frontlinie ohne juristische Anerkennung russischer Eroberungen zu erringen. Doch kann das ohne ausländische Unterstützung kaum gelingen.
Kein Kriegsende in Sicht
Ein Kriegsende ist aktuell nicht in Sicht. Putin ist bisher den Versuchen von US-Präsident Donald Trump, der das Blutvergießen beenden will, kaum entgegengekommen. Zwar stimmte der Kremlchef Trumps Forderungen nach direkten Verhandlungen zwischen Moskau und Kiew zu. Aber dazu verlangt Putin zuerst, dass Selenskyj ein Dekret über das Verbot solcher direkten Gespräche aufhebt.
«Putin entscheidet alles: noch mehr (oder alle) Gewalt einzusetzen – oder die bisherigen Eroberungen im Zuge von Verhandlungen festzuschreiben», sagt der Politologe Baunow. Der Kremlchef könne auf weitere Eroberungen verzichten, wenn er dafür im Tausch ein Ende der Sanktionen erreicht.
Der Soziologe Denis Wolkow vom unabhängigen Moskauer Meinungsforschungsinstitut Lewada sieht zwar weiter den starken Wunsch der Russen nach einem Kriegsende und Verhandlungen. Zugleich stellt er einen gewissen Gewöhnungseffekt fest. Weil für die meisten Russen das Kriegsgeschehen weit weg sei und ihr Leben normal weiter laufe oder sich teils sogar verbessert habe, sähen sie über vieles hinweg – auch über die wachsenden Zahlen der Kriegstoten auf russischer Seite.

